Verlorene Söhne

Verlorene Söhne

Joachim G. will seine Söhne wiederhaben. Sven und Kai sind im Oktober 2014 an der syrischen IS-Front verschwunden - als überzeugte Anhänger des angeblichen Gottesstaates.
Der eine Sohn studierte an einer Schauspielschule in Berlin, der andere Fotografie. Danach kehrten sie zurück nach Kassel und absolvierten im väterlichen Betrieb eine Lehre als Immobilienkaufmann. In dieser Zeit, Anfang 2014, nahm sie ein Freund mit in die Moschee.
Das deutsche Ehepaar G. hat sich vor zehn Jahren getrennt. Die Söhne lebten bei der Mutter, sind aber oft beim Vater. Und dann - ohne jede Vorankündigung - sind Sven und Kai weg, melden sich erst, als sie die syrische Grenze schon überschritten und sich der IS-Terrortruppe angeschlossen hatten, per SMS beim Vater: "Es tut uns leid, dass wir dich anlügen mussten, aber wir kämpfen jetzt für den einzig wahren Allmächtigen." - Anfangs reist Joachim G. mehrfach ins türkisch-syrische Grenzgebiet und will seine Söhne treffen. Das misslingt in den Wirren des Krieges. Der Vater lässt nicht locker, knüpft Kontakte zu Mittelsmännern, zum Verfassungsschutz, sucht nach Verantwortlichen in der Kasseler Moschee. Die Söhne brechen mit ihm, per Video auf WhatsApp. "Du bist ab jetzt der schlimmste Feind, auch wenn du unser Vater bist, weil du das größte Verbrechen begehst. Du kämpfst gegen Allah." - Im März 2015 bekommt Joachim G. noch eine Nachricht per Handy von einem Unbekannten: "Deine Söhne sind niedergeschossen worden, gefallen im Kampf für Allah." Einen weiteren Beweis für den angeblichen Tod seiner Söhne Sven und Kai gibt es nicht.
Joachim G. will es nicht glauben und klammert sich an Gerüchte, die behaupten, seine Söhne seien nicht tot, sondern in kurdischer Gefangenschaft. Diese Hoffnung lässt den Vater weiterkämpfen.
"Der Salafismus nahm mir alles, was mich als Mensch ausgemacht hat", sagt Dominic S. heute, nach acht harten Jahren in der extremen Salafistenszene. Damit meint der 28-Jährige aus Mönchengladbach nicht nur seine geistige, kulturelle und religiöse Freiheit, sondern "wirklich alles". Neben dem Salafismus gab es nichts mehr, er schrieb vor, "wie du zu denken, zu handeln und zu fühlen hast".
Dominic S. konvertiert vom rheinischen Katholizismus zum Islam. Sein Werdegang klingt wie ein Klischee: Scheidungskind - Schulschwänzer - Salafist. Er wird als Dickerchen gehänselt, leidet zusätzlich unter der Trennung seiner Eltern. Er vermisst den Vater, einen Polizisten, unterhält ein schwieriges Verhältnis zur Mutter. Er kifft, hört laute Musik, schaut Videos. Bis ihn eines Tages ein Schulfreund mit in die Moschee nimmt. Dort findet er, wonach er sich insgeheim immer gesehnt hat: "Grenzen, Strenge, Vaterersatz, Liebe." Dort lässt er "mit den Schuhen auch alle Sorgen vor der Tür", wie er sich heute die Anziehungskraft der autoritären Institution erklärt.
Wichtig ist für ihn nur noch das gottgefällige Leben. Er trennt sich von der Freundin, verschenkt seine Hip-Hop-CDs, trägt den Fernseher in den Keller, tauscht die Jeans gegen Pluderhosen und lässt den Bart sprießen. Bald kommt es zur Heirat mit einer bekennenden Salafistin, die er vorher zweimal zehn Minuten lang getroffen hatte. Aus dieser Zwangsehe hat er zwei Kinder, um die er sich liebevoll kümmert. Wenig später pilgert er mit dem Hassprediger Pierre Vogel nach Mekka und kommt vollends berauscht zurück: "Der Salafismus gibt dir alles vor: Disziplin, Struktur, Grenzen - du gibst dich aus der Hand", weiß er heute.
Dominic S. wird radikaler, dreht Propagandavideos, wird so etwas wie ein Kommunikationsmanager des Salafismus. Sein brüderliches Umfeld zieht es in den Gotteskrieg zum IS. Einer seiner besten Freunde geht nach Syrien, schwärmt vom blutigen Kampf und fordert ihn auf, nachzukommen. Dominic ist auf dem Sprung.
Aber dann erkennt er plötzlich, wie sehr sein komplettes Handeln, Denken und Fühlen von anderen diktiert wird. Er kehrt sich vom Salafismus ab, bleibt aber Moslem. Mutig beginnt er eine Videokampagne gegen den radikalen Salafismus im Internet. Sein Engagement bringt ihm nicht nur Lob ein, sondern vor allem auch Verfolgung bis hin zu Morddrohungen der alten Weggefährten.
Es sind zwei Geschichten aus entgegengesetzten Perspektiven, die zwar nicht vollständig erklären, warum junge Leute sich autoritären und mörderischen Religionsgemeinschaften anschließen - bis hin zum Märtyrertod. Aber die Psychogramme sowohl der Aussteiger als auch der Hinterbliebenen lassen eine Ahnung aufkommen, mit der man diesem todessehnsüchtigen Phänomen einer fundamentalen Sinnkrise innerhalb eines subtilen Generationskonflikts näher kommt.

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