
Republikflucht mit Folgen
19. Dezember 1975. Grenzabschnitt 401 im Grenzbereich Hildburghausen, Thüringen. Kurz nach Mitternacht zerreißen mehrere Dutzend Schüsse aus einer MPi Kalaschnikow die nächtliche Stille. NVA-Soldat Werner Weinhold schießt sich den Weg in den Westen frei. Seit Tagen schon hatte der fahnenflüchtige Werner Weinhold, der sich von seiner Einheit in Spremberg während eines Wachdienstes mit seiner MPi und 300 Schuss Munition abgesetzt hatte, auf eine Gelegenheit gewartet, die Grenze zu überwinden. Zwei tote Grenzsoldaten der DDR bleiben zurück, von denen der eine alle Einschüsse im Rücken hat. Weinhold sagt aus, in Notwehr gehandelt zu haben. Der Fall wird zu einem Politikum. Die DDR-Seite fordert die Auslieferung eines Mörders. Am Abend des 21. Dezember wird Weinhold bei Verwandten im westfälischen Marl festgenommen. In der ersten Vernehmung schon gibt er die tödlichen Schüsse auf das Postenpaar zu, behauptet aber seinerseits beschossen worden zu sein, also in Notwehr gehandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlages in zwei Fällen. Die DDR besteht auf Weinholds Auslieferung. Das kommt für die bundesdeutsche Seite aber nicht in Frage, da in der DDR unter anderem noch die Todesstrafe gilt. Der Prozess gegen Weinhold vor dem Landgericht in Essen, ein knappes Jahr nach der Tat, dauert gerade mal 1 1/2 Tage. Das Ergebnis: Freispruch mangels Beweisen. Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR hat den Prozess demonstrativ boykottiert und untermauert noch einmal ihre Auslieferungsforderung mit einer breiten Pressekampagne. Im September 1977 hebt der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verweist den Fall zur Neuverhandlung an das Landgericht in Hagen. Die Hagener Staatsanwälte und Richter geben sich alle Mühe, um mit den DDR-Behörden eine Kompromisslösung zu finden, bei der beide Seiten politisch ihr Gesicht wahren können. Die DDR beschließt einen Westberliner Rechtsanwalt, Reymar von Wedel, mit der Nebenklage zu betrauen.