'Ich lass dich nicht im Stich, Papa!'

'Ich lass dich nicht im Stich, Papa!'

GesellschaftsportraitD  

Carsten, 12 Jahre, sitzt in der Schule in Pöllwitz/Thüringen. Sein 17-jähriger Bruder Manuel büffelt einen Klassenraum weiter für die nächste Mathearbeit. Nur noch wenige Minuten, dann ist die Schule aus und die Jungs können gemeinsam nach Hause fahren. Doch zu Hause, da ist seit dem letzten Skiurlaub nichts mehr so wie es einmal war. Zuhause warten Schwester Carolin, 20, und ihr Vater Renee, 49. Renee sitzt im Rollstuhl. Er ist ab dem 3. Halswirbel gelähmt und seine Kinder pflegen ihn. Es war ein Skiunfall, der das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Als Renee nach 3 Wochen aus dem Koma erwachte, war klar, nichts wird gut. Aus dem einst starken, großen und sportlichen Mann ist ein Pflegefall geworden. Ohne die Hilfe seiner Kinder könnte er nicht zu Hause leben, müsste in ein Pflegeheim. Die Rollen sind neu verteilt. Die Mutter arbeitet Vollzeit, um die Familie zu ernähren. Tochter Carolin hat das Studium an den Nagel gehängt, um rund um die Uhr für den Vater und die pflegebedürftige Oma da zu sein. Die Jungs packen mit an, wenn sie aus der Schule kommen. Die Familie möchte ohne Pflegedienst auskommen. Ein ehrenvolles Vorhaben, doch ob es realistisch ist? Waschen, Katheter leeren, füttern, Essen kochen - das macht vor allem Carolin. Die Jungs springen am Nachmittag ein. Wenn sie aus der Schule nach Hause kommen, gehen sie zuerst zum Vater. Wie hat er den Vormittag verbracht, sind die Kanülen frei, der Urinbeutel geleert und überhaupt, wie geht es dem Papa? Und jedes Mal ist es für die Kinder schwer zu ertragen, ihren ehemals so starken Vater hilflos im Rollstuhl zu sehen. Carsten macht sich die meisten Vorwürfe. Wäre er nicht gewesen, hätte sein Vater nicht diese letzte Abfahrt gemacht... Es kommt immer wieder hoch, das Gefühl der Schuld. Auch Renee macht sich Vorwürfe, wegen ihm können seine Kinder jetzt nicht mehr unbeschwert sein. Er weint viel, ist depressiv und auf die Hilfe seiner Kinder angewiesen. Und Carolin? Sie möchte manchmal einfach nur weg. Ihre Träume hat sie auf Eis gelegt. Ihr Studium, Reisen, unbeschwerte Disko-Abende - das alles ist in die Ferne gerückt. Nach einer Studie der Universität Witten pflegen etwa 225.000 Kinder und Jugendliche ihre Eltern. Anstatt mit Freunden auszugehen, organisieren sie die Pflege. Ein Zustand, der für beide Seiten eine große Belastung ist. Die kranken Eltern wissen ganz genau, was sie ihren Kindern zumuten: Sie nehmen ihnen einen Teil ihrer Kindheit, ihrer Jugend, den Spaß, die Neugier und die Unbeschwertheit. Und die Kinder haben keine Alternative. Sie wissen, übernehmen sie nicht einen Teil der Pflege, müssen die Eltern oftmals ins Pflegeheim und das, so das Ergebnis der Studie, können sie mit ihrem Gewissen und ihrer Liebe zu den Eltern oft nicht vereinbaren.

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