Es geschah in NRW - Autofreier Sonntag

Es geschah in NRW - Autofreier Sonntag

Am 24. November 1973 wandte sich Bundeskanzler Willy Brandt in einer Fernsehansprache mit einer ganz besonderen Botschaft an die Zuschauer: 'Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich morgen und an den folgenden Sonntagen vor Weihnachten unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln.' Was der Kanzler da ankündigte, war ein einmaliges Experiment, um unter dem Eindruck der Ölkrise Benzin zu sparen. Ein einschneidendes Erlebnis - vor allem für das Autoland NRW. Bis zum Sommer 1973 war 'Energiekrise' ein Fremdwort, ein Liter Benzin kostete an der Tankstelle ganze 75 Pfennig. Dann führte der Yom-Kippur-Krieg im Nahen Osten zum Ölboykott der arabischen Länder, und Öl und Benzin wurden auf einmal teure Mangelware. Die Regierung verordnete zunächst ein Sparprogramm, im Land der Schnellfahrer wurde auf Landstraßen und Autobahnen ein Tempolimit verhängt, das Benzin an den Tankstellen rationiert. Da die Nachbarländer Niederlande und Belgien zum Teil noch strikter reagierten, erlebten die NRW-Tankstellen in den Grenzregionen einen regelrechten Benzintourismus. Die Niederlande waren dann auch die ersten, die am 4. November ein Sonntagsfahrverbot verhängten, am 18. November die Belgier. Und dann folgte auch die Bundesrepublik mit der Ankündigung von vier autofreien Sonntagen. Am 25.11., dem ersten dieser Sonntage ohne Autoverkehr, entwickelte sich beinahe so etwas wie Volksfeststimmung. Bei strahlendem Wetter strömten die Menschen mit Fahrrädern und Rollschuhen oder zu Fuß auf die Straßen und Autobahnen, manche auch hoch zu Ross. In der Dokumentation von Judith Voelker erinnern sich Menschen aus NRW daran, wie sie die autofreien Sonntage erlebt haben, zum Beispiel die Polizisten Fritz Lange und Heinz-Josef Kurthen, die kontrollieren mussten, dass tatsächlich nur Fahrer mit Ausnahmegenehmigungen auf der Straße waren, der Gastwirt Heinz Prüsener, der Gäste für sein Restaurant mit der Pferdekutsche abholte, die Tankstellenbesitzerin Irene Cloosters, die in Grenznähe Benzintourismus und Rationierungen hautnah mitbekam und dann tatsächlich einmal vier freie Sonntage hatte. Es sind erstaunliche und kuriose Erinnerungen, aber auch ernste Geschichten. Denn mit dem zunehmend schlechten Wetter im Dezember 1973 wurde das Sonntagsfahrverbot für viele zur Last, und Ausnahmegenehmigungen gab es nicht einmal, um die schwerkranke Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Die Ölkrise war nach dem vierten autofreien Sonntag schlagartig beendet. Das Nachdenken über den Umgang mit Energie begann erst Jahre später.

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