Ein Abend mit Chris Marker

Ein Abend mit Chris Marker

Anlässlich der Chris-Marker-Retrospektive in der Cinémathèque française (3. Mai bis 29. Juli) widmet ARTE dem Ausnahmeregisseur einen Kinoabend mit seinem mythischen Kurzfilm "La Jetée" - in Deutschland unter dem Titel "Am Rande des Rollfelds" gelaufen - und dessen "Remake" durch Terry Gilliam, "12 Monkeys", sowie dem frisch restaurierten Cinéma-Vérité-Film "Der schöne Mai" ("Le joli Mai") aus dem Jahr 1962 - zwei Spielfilme, ein Dokumentarfilm.

Diese Unterscheidung hätte Chris Marker nicht gefallen. Der als Franzose 1921 in Neuilly geborene Christian François Bouche-Villeneuve war ein Multimedialist avant la lettre. Marker, wie er sich früh nannte - der "Markierer", der etwas leuchtend hervorhebt -, war zwar Franzose, aber im Herzen Weltenbürger; ein unermüdlich Reisender, ein Comic-Fan, ein Freund der Katzen und anderer Tiere, ein Literat und Intellektueller (Sartre war sein Philosophie-Lehrer), der nach einem ersten Roman, Essays und Filmkritiken in der linkskatholischen "Esprit" und den "Cahiers du Cinéma" die Kamera selbst in die Hand nahm. Fotograf war er damals schon, und Filme sah und präsentierte er in den Ciné-Clubs von "Travail et Culture", zusammen mit dem Kritiker André Bazin. Nachdem er am Kommentar von "Nacht und Nebel" seines Freundes Alain Resnais mitgearbeitet hatte, revolutionierte er das klassisch-komplementäre Verhältnis von Bild und Text in eigenen Reisefilmen aus China und Sibirien ("Dimanche à Pekin", "Lettre de Sibérie"). Dass die poetischen Texte später als Buch herausgegeben wurden, spricht für sich.

Als notorischer Avantgardist eignete er sich ein Medium an, sobald es erfunden war. Mit seinem Kameramann Pierre Lhomme und einem damals völlig neuen Equipment, einer 16mm-Kamera und einem damit synchronisierten Tonaufnahmegerät, ging er 1962 auf die Straßen von Paris - und drehte eine Momentaufnahme über ein neugeborenes Paris nach Ende des Algerienkriegs. Ein Film, in dem die Menschen dank Synchronton eine Stimme haben; ein herzlicher, warmer Film in einem wunderschönen, jetzt in HD restaurierten Schwarz-Weiß.

Chris Markers Weg führte ihn in der Folge von 68 zum Cinéma Militant - und zu seinem Fresko über linken Widerstand und Pazifismus in aller Welt "Rot ist die blaue Luft" ("Le fond de l'air est rouge", 1977). In "Sans Soleil - Unsichbare Sonne" aus dem Jahr 1982, einem Essayfilm über kollektive Gedächtnisse am Beispiel von Reisebildern aus Japan, Island, Guinea-Bissau, Kapverden, arbeitete er zum ersten Mal mit per Computer eingefärbten, verzerrten Bildern. Solche Techniken sollte er in den kommenden Jahrzehnten perfektionieren, in denen er, wenn er nicht reiste, in seiner kleinen Pariser Wohnung Bilder aus aller Welt sammelte - per TV-Aufzeichnung - und sie für seine Zwecke montierte. Seine Kreativität fand in der non-linearen CD-ROM "Immemory" eine ideale Ausdrucksform, oder auch in Videoinstallationen ("Zapping Zone", "Silent Movie"). In seinen letzten Schaffensjahren, bevor er 2012 91-jährig verstarb, war er selbst noch im World Wide Web kreativ.

"La Jetée", sein kürzester und berühmtester Film, besteht aus einer Folge von überblendeten Standbildern; die Illusion der Bewegung, trotz der technischen Imperfektion derselben, macht es, dass man das einzige bewegte Bild des Films fast übersieht. "La Jetée" erzählt von einem Mann, der nach einem Atomkrieg im Auftrag von überlebenden Forschern und Militärs, die sich in die Katakomben des Palais de Chaillot geflüchtet haben, auf Zeitreise geschickt wird. Er soll Hilfe aus der Zukunft holen. Ausgewählt wird der Mann, weil er ein melancholischer Träumer ist. Auf einer der Zeitreisen landet er aus Versehen nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, wo er eine Frau trifft, die er einmal geliebt hat. Allein, das Glück der Vergangenheit festzuhalten ist ihm nicht vergönnt ...

Marker hat selbst gesagt, dass "La Jetée" die Hommage an einen Film ist, den er 21 Mal gesehen hat: "Vertigo - Aus dem Reich der Toten" von Alfred Hitchcock, wo die Hauptfigur, Scottie, sich die verlorene Liebe neu zu erfinden versucht - und noch mal scheitert. Der im Jahr 2035 spielende, postapokalyptische "12 Monkeys" mit Bruce Willis in der Rolle des Zeitreisenden ist also ein doppeltes "Remake" und zitiert "Vertigo", wie es schon Chris Marker getan hat.

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