Die späten Leiden der Kriegskinder
Angeblich heilt ja die Zeit alle Wunden. Doch viele ältere Menschen leiden noch heute unter den traumatischen Erinnerungen an Krieg und Vertreibung, die sie in ihrer Kindheit haben machen müssen. Gerade mit dem Alter, in den letzten Jahren vor dem Tod, kommen ein Leben lang verdrängte Erinnerungen wieder hoch. Wer als Kind den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen und Schrecken erlebt hat, ob an der Front oder zu Hause im Schutzbunker oder aber auch auf der Flucht, wird diese Erinnerungen bis heute nicht los. Längst vergessen geglaubte seelische Verletzungen brechen im Alter wieder auf, vor allem wenn die intellektuelle Selbstkontrolle, sprich Verdrängung, abnimmt. Diese Erfahrung machen auch häufiger Pflegekräfte, die es in Altersheimen mit Menschen zu tun haben, die den Zweiten Weltkrieg noch persönlich erlebt haben. Ob es die panische Reaktion auf ein Gewitter ist, das Horten von Lebensmitteln oder die Weigerung, sich vor dem Arzt auszuziehen: Was heute für Außenstehende als unerklärliches Verhalten erscheint, sind oftmals die Folgen von traumatischen Erlebnissen, die im Alter wieder lebendig werden. Psychologen schätzen, dass mindestens zwölf Prozent der Deutschen, die älter als 65 Jahre sind, Symptome solch einer Kriegstraumatisierung aufweisen. Lange galt das Trauma dieser Kriegskinder als Tabuthema. Zum einen gab es den inzwischen widerlegten Einwand, eine Traumatisierung könne sich nicht Jahrzehnte später zeigen. Gerade die Holocaust-Forschung hat gezeigt, wie sehr traumatisierende Erlebnisse bis ins hohe Alter fortwirken und gerade im Alter stärker in Erscheinung treten können. Zum anderen wog aber auch der Vorwurf schwer, die Beschäftigung mit den Leiden der "Täter" führe dazu, die Verbrechen an den Opfern, die millionenfache Ermordung der Juden zu relativieren. Doch seit einigen Jahren gibt es in der Traumaforschung ein Umdenken: Das Wissen um die unmenschlichen Verbrechen der Deutschen als Tätervolk kann kein Grund sein, das Leid vieler Kriegskinder auf der Täterseite zu ignorieren. Um diese Spätfolgen müsse man sich nun vermehrt kümmern, so das Argument von Psychologen und Altersforschern, stelle es doch Angehörige und Pfleger vor neue große Herausforderungen: Denn um die Wunden, die die Zeit nicht geheilt hat, müssen nun sie sich kümmern.