Das kleine Dorf am Hauptbahnhof

Das kleine Dorf am Hauptbahnhof

St. Georg schläft nicht. Die letzten Bars haben noch geöffnet, wenn um fünf Uhr morgens die Reinigungskommandos auf dem Weg in die schicken Hotels sind. Ab sieben, wenn auf den Straßen die Müllabfuhr den Verkehr lahmlegt, gehen für die Handwerker die Maschinen an, wie in der kleinen Marmor- und Granitschneiderei in der Böckmannstraße, dann legen sich die Mechaniker von 'Nürnberg' in der Koppel unter kaputte Autos und reparieren noch ganz altmodisch, wo die modernen Werkstätten längst alles austauschen. Um zehn kann sich die Lange Reihe gerade nicht entscheiden, ob sie nach frischen Brötchen oder gedämpften Hemden duften soll. 300 Meter östlich, am Kleinen Pulverteich, ist mittlerweile der historische Ofen eines afghanischen Bäckers auf Temperatur und spuckt serienweise Fladenbrote nicht nur für die muslimischen Mitbürger aus. Jeden Morgen gegen elf Uhr betritt der Patriarch aller im Stadtteil lebenden Schauspieler die Bühne der Langen Reihe: Peter Maertens. Leise vor sich hin rezitierend ist er auf dem Weg zum Portugiesen, um seinen täglichen Galao (Milchkaffee) zu trinken. Hinter den Türen wird St. Georg erholsam ruhig und angenehm menschlich und zu dem Dorf, von dem die Eingeborenen liebevoll reden. Zum Beispiel bei Helmut Wiederhold, der als letzter Glasbläser Hamburgs auf seinen acht Quadratmetern noch Gebrauchsgläser fertigt, oder bei Wolfgang Reinhardt, der vor 62 Jahren am Hansaplatz geboren wurde und sich bis zum Tod nicht mehr aus seiner 180 Quadratmeter Altbauwohnung wegbewegen wird. Dabei sind die Sorgen aller Bewohner groß, dass die Vielfalt, die ihr St. Georg so besonders macht, bald ein Ende hat. Mitten durchs 'Dorf' läuft der bürgernahe Polizist Michael Mock mit seiner Pistole im Halfter - für die Bewohner ein sicherer Garant für einen letzten Rest Anstand und Ordnung im offensichtlichen Chaos, in dem sich der kleine Stadtteil so sehr gefällt.

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