Plattgemacht

Plattgemacht

Suhl-Nord, einst modernes Plattenbauviertel in Thüringen, heute geprägt von Abwanderung und Überalterung. Der Leerstand breitet sich wie ein Virus aus. Das Wohngebiet wird abgerissen.

Nach der Wende ging es bergab. Suhl-Nord: Von 14 000 Bewohnern sind nur noch 3650 übrig. Sanierung lohnt nicht, Platte für Platte wird nun abgerissen. Die Bewohner werden umgesiedelt. Was bedeutet es für sie, ihr Zuhause zu verlieren?

Suhl liegt etwa 70 Kilometer südlich von Erfurt. In den 1960er und 1970er Jahren wurde aus dem kleinen Städtchen eine DDR-Vorzeigestadt. Suhl wuchs auf 56 000 Einwohner an. Neue Industrien wurden angesiedelt, der Bedarf an Wohnraum nahm rasant zu. So entstanden ganze moderne Plattenbau-Viertel, auch Suhl-Nord.

Doch nach der Wende begann der Wandel. Die volkseigenen Betriebe schlossen, Arbeitsplätze gingen verloren, die Jungen zogen weg. Der demografische Wandel, der in ganz Deutschland zu verzeichnen ist, macht sich hier mit voller Härte bemerkbar. 40,2 Prozent der Einwohner sind heute über 60 Jahre, der höchste Wert im Vergleich aller kreisfreien Städte und Landkreise in Deutschland. Diese Entwicklung soll sich ändern: In Suhl will man die Schrumpfung als Chance sehen. Die Strategie der Stadt und der städtischen Wohnungsbaugesellschaften heißt: Abriss, bevor sich der Leerstand im Wohngebiet Suhl-Nord ausbreitet. Doch was bedeutet das für die Bewohner, die seit Jahrzehnten in ihrer "Platte" leben? "37°" hat ein Jahr lang drei Protagonisten begleitet, die noch in Suhl-Nord leben.

"Wenn ich jetzt höre von Leuten, wo wohnst denn du, Suhl-Nord, och mein Gott, Suhl-Nord. Ich sag', das ist nicht das Ghetto Suhl-Nord." Christine wohnt seit 27 Jahren in Suhl-Nord. Ihre Kinder hat die 51-Jährige gemeinsam mit ihrem Mann Hans im Viertel großgezogen. Schon zwei Mal musste die Familie mit ansehen, wie Bagger ihr Zuhause plattmachten. Jetzt bekamen sie wieder einen Brief: Abriss! Es ist das dritte Mal, dass Christine und der 74-jährige Hans umziehen müssen. Christine hat gelernt, sich durchs Leben zu schlagen. Sie hat sechs Jobs, um über die Runden zu kommen. Christine und Hans können nicht viel Miete zahlen, und Zeit zur Wohnungssuche fehlt der Multijobberin auch.

Die Wohnungsbaugenossenschaft ihres Wohnblocks bietet drei alternative Wohnungen an. Doch Christine will nicht jede Wohnung akzeptieren. Wenn keine passt, Pech! "Sollen die Bagger doch kommen", sagt Christine, "die jage ich mit dem Nudelholz davon." Doch nachts, wenn sie nicht schlafen kann, kommen die Sorgen. Werden Christine und Hans eine passende und bezahlbare Wohnung finden?

Die 75-jährige Helga wohnt auch in Christines Wohnblock, im Eingang nebenan. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie geholfen, das Viertel aufzubauen, Anfang der 80er Jahre. Die Plattenbauten waren begehrt. Um eine Wohnung zu bekommen, mussten sie mit leeren Konservendosen Löcher für Drahtzäune schaufeln und Schutt schippen. Für Helga ist Suhl-Nord ihr Leben. "Seit Juni '81 sind wir hier eingezogen, da war ich hochschwanger. Ich kenne wirklich jeden, der rein- und rausgezogen ist." Die Nachbarschaft, der Zusammenhalt, in ihrer Erinnerung war das eine wunderbare Zeit. Dann kam die Wende, Tausende von Arbeitsplätzen gingen verloren. Wer noch nicht zu alt war, ging. Der Zusammenhalt zerbröselte. Aber das Wohnviertel gab Helga und ihrem Mann Halt, auch, als ihre Tochter unerwartet stirbt. Als Helgas Mann dann nach 43 Jahren Ehe ebenfalls stirbt und zeitgleich ein Brief ankommt mit der Ankündigung, dass ihre Platte abgerissen wird, bricht für Helga eine Welt zusammen. Ein Trost ist die zehnjährige Enkelin, die jetzt in einem Kinderheim lebt und Helga manchmal besucht. Wie wird Helga den Umzug verkraften?

Der 35-jährige Dragan kommt aus Serbien und landete durch Zufall in Suhl-Nord. Dort lebt er mit seiner Frau und den vier Kindern in einer der letzten Plattenbauten, die noch nicht abgerissen wurden. Während für die meisten "Suhl-Nord" Abschied bedeutet, ist es für Dragan und seine Familie ein Neuanfang. "Andere gehen", sagt er, "ich komme." Seit fünf Jahren lebt er in Suhl-Nord. Dragan hofft, dass seine Frau und er eine Festanstellung finden. Das Wohngebiet Suhl-Nord ist sein Zuhause geworden. Dragans jüngster Sohn ist dort geboren. Die Kinder gehen in den letzten noch verbliebenen Kindergarten und in die letzte Grundschule, die es in Suhl-Nord gibt. Doch wie lange kann die Familie bleiben?

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