Ostende 3 Uhr nachmittags
"Ich bin der Meinung, dass die zentrale Figur im Film am besten nicht richtig vorhanden ist. Weil ich das Gefühl habe, Menschen sind nicht greifbar und ich hab das auch besonders von mir selber. Also Menschen sind natürlich an bestimmten Punkten greifbar, haben eine Stabilität erreicht an einem mehr oder weniger durchgehenden Lebensstrang, aber dann verschwinden sie wieder."
Mit diesem Zitat beginnt das Porträt des Filmemachers Klaus Wildenhahn, der das so genannte "uncontrolled" oder Direct Cinema in Deutschland einführte. Wildenhahn, Jahrgang 1930, gilt als einer der wichtigsten Dokumentarfilmregisseure im Nachkriegsdeutschland und hat mit seiner Regiearbeit und Lehrtätigkeit Generationen von Filmschaffenden beeinflusst.
In "Ostende - 3 Uhr nachmittags" verschränkt Quinka Stoehr die Lebensgeschichte Klaus Wildenhahns mit seinem filmischen Schaffen. Beobachtungen seines Alltages und Puzzlestücke seiner Erinnerungen werden mit Ausschnitten seiner Filme, seinen Texten zum Dokumentarfilm, mit persönlichen Gedichten und Prosa, die er selbst vorträgt, verwoben.
Ausgangspunkt für den Film ist Klaus Wildenhahns Wohnung in Hamburg, voller Bücher und Erinnerungen. Von hier aus begleitete Quinka Stoehr den seinerzeit fast 80-jährigen Klaus Wildenhahn in Cafés und Kneipen, zu Kinovorführungen, zu alten Freunden sowie an die Filmhochschule in Potsdam, wo er trotz einer Krebserkrankung unterrichtet.
Wildenhahn erinnert sich an seine verschlungenen Pfade zum Filmemachen: zunächst ein abgebrochenes Studium, dann Krankenpfleger in London. Mit Gedichten bewarb er sich 1959 beim Fernsehen und wurde genommen. Die Begegnung mit dem amerikanischen Dokumentarfilmer Richard Leacock in den 1960er-Jahren veränderte sein Leben: Dokumentarfilme drehen mit der Methode des "uncontrolled" oder Direct Cinema.
Das persönliche Porträt von Quinka Stoehr über Wildenhahn führt schließlich an einen Ort, an dem für ihn vieles begann: nach Ostende. Hier arbeitete seine Mutter im Ersten Weltkrieg als Lazarettschwester für das deutsche Besatzungsheer. Sie hatte sich als Patriotin an die Front gemeldet und kehrte als Pazifistin aus dem Krieg zurück. Diese Erfahrungen der Mutter, so Wildenhahn, haben auch ihn geprägt.
Die Dreharbeit an dem Film wird als Prozess und Dialog zwischen der Autorin und Klaus Wildenhahn offengelegt: Klaus Wildenhahn bezieht die Kamera immer wieder ein und gibt Regieanweisungen. Dennoch macht Quinka Stoehr ihren eigenen Film. So ist Klaus Wildenhahn nicht, wie von ihm anfangs postuliert, die Randfigur in seinem eigenen Porträt, sondern die Hauptperson: Er erklärt sich und seine Arbeit und offenbart ein wichtiges Stück Film- und Fernsehgeschichte, eingebettet in den Kontext seiner Zeit.
So ist die vielschichtige und berührende Momentaufnahme eines Mannes entstanden, der den Dokumentarfilm in Deutschland nachhaltig geprägt hat und der, so wie er selber sagt, "nicht greifbar" und zum größten Teil schon "verschwunden" ist. Seine Filme bleiben, sie waren und sind ein Meilenstein in der Geschichte des deutschen Dokumentarfilmes und des Fernsehens.