Der Deutschtürken-Report

Der Deutschtürken-Report

Gesellschaft und PolitikD  

Mesut Özil, Ausnahmefußballer und Enkel türkischer Gastarbeiter, galt Jahre lang als Musterbeispiel für gelungene Integration. Bis er und sein Teamkollege Ilkay Gündogan im Mai 2018 mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan posierten. Wie hält es der von Politik und Fans zum Vorbild stilisierte Özil mit Werten wie Menschenrechte und Meinungsfreiheit, will die Nation nun wissen. Spätestens seit dem frühzeitigen Aus Deutschlands bei der Fußballweltmeisterschaft in Russland nahm die Debatte an Schärfe zu. Die türkischstämmigen Fußballer wurden ausgepfiffen und sahen sich rassistischen Angriffen ausgesetzt. Schließlich erklärte Özil seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Er fühle sich als ein Deutscher, "wenn wir gewinnen und als Immigrant, wenn wir verlieren". Das Gefühl, benachteiligt zu werden, nicht wirklich dazuzugehören, beklagen viele Menschen türkischer Herkunft. Auf die Frage, ob sie einen gerechten Anteil in diesem Land bekommen, antworten nur 50 Prozent der knapp drei Millionen Deutschtürken mit "ja". Fakt ist aber auch, dass im Juni 2018 etwa 60 Prozent der wahlberechtigten Türken in Deutschland für Recep Tayyip Erdogan stimmten. Ähnlich fiel das Ergebnis bei der Abstimmung über die Verfassungsreform im April 2017 aus. In Deutschland die Vorzüge eines Rechtsstaates genießen und für die Abschaffung der Gewaltenteilung, die Entmachtung des Parlaments und für ein autokratisches System in ihrem Herkunftsland stimmen? Was sagt das aus über die Integration von türkischstämmigen Menschen in Deutschland? "Die Deutschtürken sehen die Entwicklung der Infrastruktur unter Erdogan, wenn sie zum Urlaub in die Türkei fahren. Von diesen Vorzügen profitieren sie, die politischen Folgen blenden sie aus", kritisiert Gökay Sofoglu von der türkischen Gemeinde in Deutschland. Prof. Haci-Halil Uslucan vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen beobachtet in den letzten fünf Jahren eine zunehmend hohe Verbundenheit der Deutschtürken zur Türkei bei gleichzeitiger Abnahme der Verbundenheit mit Deutschland. Seine Erklärung: "Man kann nicht sagen, integriert euch und zugleich sagen, der Islam gehört nicht dazu. Das sind widersprüchliche Botschaften", sagt Uslucan, der auch im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sitzt.

Die Kölner Buchautorin Tuba Sarica sieht solche Erklärungen skeptisch. Sie spricht von einer Deutschenfeindlichkeit in Teilen der türkischen Community, die den Kindern eingeimpft werde und die Integration verhindere. Faruk, Gürsel und Bilal, alle in einem sozialen Brennpunkt in Offenbach am Main geboren und sozialisiert, begreifen sich dagegen als Deutsche. Aber die Türkei hat in ihrem Herzen trotzdem einen besonderen Platz. "Weil da unsere Eltern herkommen und wir, wenn wir dorthin fahren, viel Zuneigung von diesen Verwandten bekommen", sagt Gürsel.

25 Prozent der hier lebenden Türkischstämmigen sind jünger als 15 Jahre. Bei den Einheimischen sind es elf Prozent. Die Deutschtürken sind im Durchschnitt also deutlich jünger. Ein großes Potenzial für unsere alternde Gesellschaft, wenn sich diese Gruppe in Deutschland zuhause fühlt, aber eben auch ein nicht unerhebliches Risiko für den gesellschaftlichen Frieden, wenn dies scheitert. Grund genug, die Gruppe der sogenannten Deutschtürken, der Deutschen türkischer Herkunft, genauer zu betrachten. Wie denkt, wie fühlt, wie lebt die extrem heterogene Gruppe der unterschiedlichen Generationen? Wie steht es um die Schulbildung und wie erfolgreich sind sie ökonomisch? "Der Deutschtürken-Report" ist ein journalistischer Faktencheck der Autoren Ilyas Meç und Emel Korkmaz. Ihre umfassende datenjournalistische Recherche zeigt überraschende Erkenntnisse auf und stellt gängige Parolen auf den Prüfstand.

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